Text Archive - Seite 4 von 4 - Sophia Schillik
96
archive,paged,tax-portfolio_category,term-text,term-96,paged-4,ajax_fade,page_not_loaded,,select-child-theme-ver-1.0.0,select-theme-ver-3.8.1,wpb-js-composer js-comp-ver-5.1.1,vc_responsive

London Foodguide Magazin Genussraum

Erschienen Frühjahr 2014

London aus der Perspektive eines genussaffinen Besuchers ist eine Endlosschleife aus kulinarischen Aha-Momenten und überraschenden Geschmackserlebnissen. Die Zeiten, als in der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs nur Fish and Chips und Yorkshire Pudding serviert wurden, sind längst vorbei. Inzwischen lässt sich wohl nirgendwo in Europa eine solche Dichte an zauberhaften Delikatessenläden, kreativ inszenierten High Class-Restaurants oder exzellenten Eateries finden. Ein Schlaraffenland für Foodies jeglicher Coleur.
Wo aber fängt man an? London ist schließlich groß und vor allem: in ständigem Wandel. Am besten, man geht portionsökonomisch vor und betreibt das, was die Londoner venue hopping nennen: Man isst sich von Restaurant zu Restaurant, teilt kleine Teller miteinander und kommt so in den Genuss möglichst vieler unterschiedlicher Gerichte.
Die Gegend rund um Peckham und South East London ist geradezu prädestiniert für diese Art des kulinarischen Sich-treiben-lassens. Hier hat sich in den letzten Jahren eine rege Gastroszene entwickelt, darunter außergewöhnliche Konzepte wie das balkanverliebte Peckham Bazaar, die unprätentios-stilvollen Peckham Refreshment Rooms oder Bar Story, beliebt für seine Drinks und Pop Up-Events.
Fast schon ein Frevel wäre es auch, sich nicht durch Brixton Village und die Market Row zu schlemmen, einer Art Wunderland für kulinarische Jäger und Sammler. Hier ein Flat White bei Federation Coffee, dort ein paar Tapas bei Seven at Brixton, nebenan lokal produzierte Chutneys: Hier könnte man ewig bleiben! Neben der typischen Meltingpot-Küche Londons mit ihren exotischen Einflüssen setzen viele Inhaber auf kreative Neuinterpretationen britischer Traditionsgerichte – mit enormem Erfolg! Läden wie Cornercopia oder Salon sind Wochen im Vorraus ausgebucht, manchmal muss man auch Schlange stehen. Das Verrückte daran: Die Leute tun es, und sei es nur für eine Pizza bei Franco Manca. Spätestens beim ersten Biss in den duftenden Italo-Klassiker weiß man warum: Dies ist eine der umwerfendsten Streetfood-Erfahrungen der ganzen Stadt.

Überhaupt: Streetfood, Fastfood, superfrische Snacks sind hier eine ganz große Nummer. Da wäre zum Beispiel Bánh mì, die vietnamesische, aus Reismehl gebackene Version des französischen Baguette-Sandwiches, die in Windeseile Kultstatus erlangt hat – ebenso wie die neue Qualitätsstandards setzenden Pattie-Tempel von Honest Burgers und die Verquickung von Hot Dogs und Champagner bei Bubble Dogs. Und eine weitere Revolution hat die Szene erobert: Craft Beer – authentisches, kreatives und in unabhängigen Mikrobrauereien gebrautes Bier abseits der gängigen Geschmacksnuancen.

Wer sich partout nicht mit Wartehaltung oder Streetfood anfreunden kann, sollte populäre Restaurants am besten zur Lunchzeit ansteuern. Das ist nicht nur eine gute Option, um die oben angepriesene Kleine-Teller-Methode erfolgreich durchzuziehen, sondern auch eine finanzenschonende Maßnahme. Definitiv auf die To-Do-Liste gehört ein Besuch des The Clove Club, einst ein Suppper Club, heute ein holzgetäfelter Wohlfühlort zwischen modern und gediegen, an dem es vor Delikatessen nur so wimmelt: Produkten wie heirloom tomatoes, sweetcorn und Entenherzen. Zum Amuse wird schon mal ein frittierter Hühnerfuß gereicht – das Augenzwinkern liegt den Briten also immer noch im Blut.
Trotz allen Humors: Die (durchaus ernstgemeinte) Maxime „Eat the seasons“ zieht sich wie ein roter Faden durch alle Konzepte. Und: Regionale Produkte haben einen äußerst hohen Stellenwert. Kale z.B. oder pinker Rhabarber, Holunderbeeren und bunte Beete, dazu Brunnenkresse, Portobellopilze, Austern, Steinbutt und – hallo! – Möweneier. Auch deshalb ist es so ein Vergnügen, London mehrmals im Jahr zu besuchen: hier ist man sich durch verschiedene Mikrosaisons.
Und noch etwas macht großen Spaß: London den Rücken zu kehren und sich hin und wieder einen ausgedehnten sunday lunch „off the road“ zu gönnen. Seasalter ist so ein Ort, an dem man sich Zeit und Raum völlig enthoben fühlen kann: ein kleines Fleckchen Erde in der Grafschaft Kent, malerisch am Meer gelegen und mit einem Pub der Extraklasse, dem The Sportsman, gesegnet, für dessen fangfrische, in Algenbutter gebratene Seezunge allein sich schon der Urlaub lohnt.

Viani / Olio Roi

Vom Olivenölbauern, der keine Oliven aß

 

Es ist ein Freitag Anfang Dezember, 13 Uhr, „pausa di pranzo“: Mittagsessenszeit. Entspannt sitzen wir an dem großen, rustikalen Holztisch im Bauch der Ölmühle Roi, vor uns einen großen Teller mit Fava-Bohnen, Oliven und Käse, dazu das zweite von zahlreichen Gläsern Franciacorta, den unser Gastgeber zu jeder Tageszeit einschenkt. Franco Boeri Roi ist ein Genießer, einer, der das Leben voll auskostet und seine Freunde immer herzlich willkommen heißt, auch wenn er selbst gerade alle Hände voll zu tun hat. Gerade täten ein paar mehr Handpaare durchaus Not, denn es ist Erntezeit in Badalucco, jenem kleinen Bergdorf im Hinterland von San Remo, in dem Franco und seine bezaubernde Frau Rosella zuhause sind. Hier, im Herzen von Ligurien, entsteht seit vielen Jahrzehnten eines der besten Olivenöle der Welt, von einer herrlichen Mildheit und Süße, die an reife Mandeln und buttrige Noten erinnert, gesegnet mit einem zarten, goldenen Schimmer, der typisch ist für die Olivenöle dieses Landstrichs.

 

Aber halt: Das Öl, dessenwegen wir gekommen sind, ist ja grün! Smaragdgrün, fluoreszierend grün, von einer faszinierenden Farbe jedenfalls, die man von Olivenöl so nicht kennt. „Olio Növu“ nennen die ligurischen Bauern es in ihrem Dialekt, das neue Öl. Es ist das erste seiner Art, das erste der diesjährigen Ernte, die bis Februar andauern wird, und für die Leute aus Badalucco und der umliegenden Dörfer ist es etwas ganz besonderes. Die meisten der Familien hier haben eigene Olivenbäume, die sie selbst kultivieren und pflegen, und wer etwas auf sich hält, bringt seine Oliven nach der Ernte zu Roi, in die „Frantoio Valle Argentina numero uno“. Francos und Rosellas Mühle ist die erste Adresse, nicht nur im Ortsverzeichnis.

Dass wir gerade zur turbulenten Hochsaison nach Badalucco gekommen sind, hat seine Gründe. Zum einen wollten wir die Boeri Rois – liebgewonnene Freunde, die sie sind – endlich einmal wieder sehen, zum anderen natürlich bei der Pressung des Olio Nuovo dabei sein. Ein solches Öl sieht und schmeckt man nicht alle Tage, es ist ein echtes Highlight zu beobachten, wie die leuchtend grüne, samtig glänzende Flüssigkeit direkt nach der Pressung in große Bottiche fließt. Man kann gar nicht anders, als immer wieder ein Stück Brot zu nehmen und unter den Strahl zu halten: Dieses frische, naturbelassene und aromenreiche Öl ist zu köstlich, um wahr zu sein! Ob wir davon wohl ein paar Flaschen mit nach Göttingen nehmen können? Wir denken laut. Franco lacht. Natürlich geht das. Vielleicht auch ein paar mehr. Wie wir das bewerkstelligen, darüber werden wir heute Abend beim Essen sprechen. Die ein oder andere Flasche Franciacorta hat Franco bereits kalt gestellt. Und ja, es wird Olio Nuovo geben.

 

Schon allein für die Spezialität der Gegend, stoccafisso, ist es unabdingbares Würzmittel. Zwischen zwei Gabeln erzählt uns Franco, wie der durch Trocknung haltbar gemachte Kabeljau über norwegische Seefahrer bereits im Mittelalter nach Badalucco kam und wie sein Großvater, ein großer Liebhaber dieses traditionellen Arme-Leute-Essens, jeden Sonntag eine Schnur um ein Stück Stockfisch zu wickeln pflegte. Das Objekt der Begierde wurde einfach aus dem Fenster direkt in den sich darunter befindenden Fluss geworfen, wo die beständige Wasserbewegung den stoccafisso bis zum Abendessen pfannenfertig werden ließ. Erst auf diese Weise, also sachgerecht gewässert, wird er schmackhaft, erklärt uns Franco halb ernst, halb schmunzelnd – so wie eben auch Oliven richtig verarbeitet werden müssen, damit ein gutes Öl entsteht. Francos Großvater war übrigens Ölmüller, nicht Stockfisch-Fischer.

Tatsächlich hat die Ölmüllerei eine jahrhundertealte Tradition im Dorf. Bis vor wenigen Jahrzehnten lebte ein Großteil der Bevölkerung von diesem Berufszweig. Von den einst 400 Ölmühlen sind heute allerdings gerade einmal eine Handvoll übrig geblieben. Eine davon ist die von Franco, der 54-Jährige führt sie in vierter Generation. Doch Franco ist mehr als nur als ein passionierter Olivenölproduzent. Er ist auch leidenschaftlicher Olivenbauer, mit eigenen Hainen, die er selbst bewirtschaftet und kontrolliert. Als er vor 27 Jahren in die Fußstapfen seines Vaters trat, war das ein Novum. Doch Franco setzte sich durch. „Nur wer die Olivenbäume kennt und ihre Pflege selbst in die Hand nimmt, weiß, wie daraus das bestmögliche Öl entstehen kann“, davon ist der abenteuerlustige Italiener mit dem Charaktergesicht überzeugt. Letztlich seien natürlich mehrere Faktoren ausschlaggebend für ein gutes Ergebnis: Das fachgerechte Zurückschneiden der Bäume, der optimale, den klimatischen Gegebenheiten angepasste Erntezeitpunkt, eine schonende Erntemethode, eine möglichst kurze Lagerzeit (maximal 24 Stunden) und natürlich die richtige Verarbeitung der Früchte.

 

Wie die vonstattengeht, dürfen wir am nächsten Tag beobachten. Zusammen mit Francos Leuten und den auf ihr Öl wartenden Olivenbauern stehen wir auf dem weitläufigen Platz vor der Mühle, eingekeilt zwischen farbigen Plastikkisten und schwer gefüllten Jutesäcken, vor uns die malerische Häuserkulisse von Badalucco. Die Luft ist erfüllt vom Rattern der Sortiermaschine, es riecht ölig, fruchtig und süß zugleich. Fasziniert sehen wir zu, wie binnen weniger Stunden jenes „Olio Növu“ entsteht, dass uns schon am Vortag so begeistert hat. Wie die typisch ligurischen Taggiasca-Oliven – grüne, unreife und schwarze, vollreife – zwischen Granitsteinen zermahlen werden, die so entstandene Paste auf Matten gestrichen wird und das Öl schließlich durch das Eigengewicht der Matten ohne Druck aus dem Olivenbrei rinnt. Erst danach wird das restliche Öl vorsichtig aus den Matten gedrückt, natürlich ohne die Temperatur von 27 °C zu überschreiten: Francos Öle sind allesamt – vom Carte Noire, dem eben beschriebenen Tropföl, über die speziellen Lagenöle bis hin zum Monocultivar– Olii extra vergini: kaltgepresste Olivenöle nativ extra.

 

Vor allem aber sind sie köstlich. Auch – und gerade jetzt – das unfiltrierte Olio Nuovo.  Fruchtig und mild schmeckt es, mit buttrigen Aromen und einer eleganten, fast schon sahnigen Frische. Einfach. Ehrlich. Unbeschreiblich echt. Dazwischen feine Kräuternoten und subtile Mandeltöne. Wir haben eindeutig die grüne Brille auf!

 

Am nächsten Tag sitzen wir ein letztes Mal gemeinsam zu Tisch, bevor wir uns von Badalucco und den Boeri Rois verabschieden müssen. Es gibt Tomatensalat, Penne mit Pesto Genovese und Antipasti aus der hauseigenen Feinkostlinie. Auch wenn wir in ein paar Minuten den Heimweg nach Göttingen antreten müssen, sind wir fröhlich gestimmt, bringen wir doch ein kleines, aber feines Kontingent Olio Nuovo und ein paar wunderbare Geschichten mit nach Deutschland. Zum Beispiel diese hier: Als wir Franco die Schale mit den eingelegten Taggiasca-Oliven reichen, winkt er ab. Er möge doch keine Oliven, erinnert er uns lächelnd. Und wir nicken, verstehen – und essen sie selbst.

 

Man muss schließlich keine Oliven mögen, um zu wissen, wie daraus das bestmögliche Öl entsteht.